* 23. Oktober 1893 in Calbe in der Altmark   † unbekannt
Stolpersteinverlegung am 15. Oktober 2020 in der Antonistraße 2

Parvenüs und Profiteure
„…sie starb aus Gram, Kummer und tiefen Schmerz über das Unglück ihres Sohnes!“


Das Schicksal des Lübecker Gastwirts Fritz Schulze macht in drastischer Weise deutlich, wie ein zuvor völlig unbescholtener Bürger durch die staatliche Verfolgung, wie er es selbst formulierte, „physisch wie psychisch“ vernichtet wurde und eine Reihe von sogenannten „Volksgenossen“ sich an seinem Eigentum bereicherten.

Schulze überlebte die Ausgrenzung, die Folter, die Haft, die Enteignung, Armut und die Erniedrigung in seinem Entschädigungsverfahren und starb als gebrochener Mann. Die Juristen, die für sein trauriges Schicksal verantwortlichen waren, wurden nie zur Verantwortung gezogen. Der selbständige Kaufmann Johann Friedrich Schulze, geboren am 23. Oktober 1893 in Calbe in der Altmark, war verheiratet, Vater einer damals 28jährigen Tochter und wohnte seit 1936 in Lübeck in der Antoniestraße 2.

Im Jahre 1924 war der damals 30jährige Schulze aus Hannover kommend nach Lübeck gekommen. Zunächst wohnte er bei Karl Warneke in der Königsstraße 73 über dessen Stehwirtschaft zur Untermiete. Drei Jahre später erwarb er 1927 das Haus in der Antoniestraße 2.

Im Jahre 1937 betrieb er eine Wein- und Spirituosenhandlung in der Hüxstraße und war außerdem nun selbst der Pächter des Schankbetriebes in der Königstraße 73 im Herzen der Lübecker Altstadt. Ferner betrieb er einen Lastkraft-Fuhr-Betrieb als selbständiges Gewerbe. Er lebte seit Jahren von seiner Frau getrennt in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung mit seinem Freund Wilhelm Heick, der in seiner Gastwirtschaft als Kellner arbeitete.

Seiner Verhaftung im Jahre 1937 waren jahrelange schwerste Erpressung, Bedrohung und Verleumdungen durch die Polizei vorangegangen. Auf Denunziation seiner Mutter, die bei ihm im Hause wohnte, drang erstmals im Juli 1935 ein Kriminalbeamter in seine Wohnung ein. Damals bleib es zunächst bei einer Verwarnung. Doch bereits wenige Tage später wurde er von der Kriminalpolizei in seinem Geschäft verhaftet und nach einem ergebnislosen Verhör im Polizeipräsidium wieder entlassen. Fortan stand er unter polizeilicher Beobachtung.

Im Frühjahr 1937 wurde schließlich ein Strafverfahren nach § 175 StGB gegen ihn erhoben. Im Zuge dieses Strafverfahrens wurde der Antragsteller am 8. März 1937 auf Grund eines „Schutzhaftbefehls“ der Gestapo vom gleichen Tage zusammen mit Wilhelm Heick zunächst in „Schutzhaft“ genommen. Morgens früh wurde er von 2 Gestapo-Leuten in zivil beim Betreten seines Lokals in der Königstraße 73 festgenommen.

Vorgeworfen wurde ihnen ein gleichgeschlechtliches Verhältnis. Unter der Folter tagelanger grausamster und brutalster Todesdrohungen wurde ein Geständnis von ihnen erpresst. Darin räumte Schulze ein, homosexuell veranlagt zu sein und bereits seit seinem 16. Lebensjahr gleichgeschlechtlichen Verkehr mit Männern gehabt zu haben.

Am 20. März 1937 wurde Schulz auf Grund richterlichen Haftbefehls zur Untersuchungshaft gebracht. Am 24. September 1937, noch vor Beendigung des Strafverfahrens, wurde er aus der Untersuchungshaft wieder entlassen.

Am 6. Dezember wurde er durch Urteil der großen Strafkammer des Landgerichts Lübeck wegen Vergehens gegen den § 175 StGB in zwei Fällen, davon ein Fall in fortgesetzter Handlung gegangen, zu einer Gesamtstrafe von sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die durch die erlittene Schutz- und Untersuchungshaft als verbüßt galt.

Seine Haftstrafe hatte er durch die monatelange Schutz- und Untersuchungshaft noch vor dem Urteil in seinem Prozess verbüßt, zu dem Zeitpunkt war er dann aber schon wirtschaftlich ruiniert. Mit sofortiger Wirkung wurde ihm mit der Verhaftung die Konzession zur Führung eines Schankbetriebes entzogen. Bereits im April, also keine vier Wochen später, war seine Gastwirtschaft von einem neuen Pächter übernommen worden, sein Weinlager veräußert. In seiner wirtschaftlichen Notlage wurde er dazu gedrungen, sein Haus und sein ganzes Hab und Gut zu verkaufen. Rein sachlich stellten sich diese Vorgänge wie folgt da.

Während der Zeit seiner Inhaftierung veräußerte Schulz seine Wein- und Spirituosenhandlung an den Kaufmann Otto Maas. Der Übergang des Geschäfts wurde am 15. Mai 1937 im Handelsregister angemeldet. Otto Maas veräußerte das Geschäft im Jahre 1945 an den Kaufmann von Toen, erwarb es aber bereits im Jahre 1947 von von Toen wieder zurück.

Unmittelbar nach der Verhaftung wurde Schulz die Konzession zur Führung eines Schankbetriebes entzogen und der Schankbetrieb geschlossen. Da nach Meinung der Hauseigentümer, die durch Käte Mollenkopf vertreten wurde, keine Aussicht bestand, das Schulze die Konzession wiedererlangte, lösten die Hauseigentümer das Pachtverhältnis mit Schulze und verpachteten den Schankbetrieb am 20. April 1937 neu an den Parteigenossen Voss, nachdem der Schankbetrieb zuvor vorübergehend von dem Gastwirt Svenson geführt worden war. Svenson war damals offenbar von der Gestapo mit der Führung des Betriebes betraut worden. Käte Mollenkopf rechtfertigte sich in ihrer Aussage auch mit dem Verweis darauf, dass Schulz „…wegen seiner pathologischen Veranlagung als Gastwirt ohnehin nicht vertretbar gewesen sei.“

Außer diesem Geschäftsvermögen besaß Schulz damals noch ein in Lübeck, Antoniestraße 2 gelegenes, im Grundbuch von Lübeck, St. Jürgen, Band 29. Blatt 29 (früher Blatt 949) eingetragenes Privatgrundstück.

Dieses Grundstück verkaufte Schulze durch notariellen Kaufvertrag am 9. Februar 1938, also einige Monate nach seiner Haftentlassung und Aburteilung, zum Preis von 17.300 RM an die Ehefrau Dahl. Auflassung und Eintragung auf Käthe Dahl fanden am 25. März bzw. 2. Mai 1938 statt. Das in dem Haus Antoniestraße 2 befindliche bewegliche Vermögen ist im Zusammenhang mit Schulz Verhaftung zu einem erheblichen Minderpreis versteigert und zum Teil auch während der Zeit seiner Inhaftierung gestohlen worden.

Nach seiner Entlassung aus der Haft verließ Fritz Schulz am 23. Mai 1938 Lübeck, wohnte vom 31. Mai bis zum 20. Juni 1938 in Hamburg, Steindamm 37, II. Stock bei Bachmann. In Hamburg lernte er einen jungen Portugiesen kennen, mit dem er von dort am 21. Juni 1938 nach Lissabon auswanderte.

Im Verfahren gegen den Hamburger Conrad Menck im März 1942 vor dem Landgericht Hamburg tauchte sein Name dann auch noch einmal als einer der Beschuldigten auf. Schulze war demnach mit Conrad Menck befreundet und sie hatten auch eine sexuelle Beziehung gehabt. Nachdem Schulze nach Portugal ausgewandert war, schrieb er sich weiter mit Menck. Dieser ließ sich die Briefe an die Adresse eines Dritten, Willy Holst, schicken. Bei Menck wurden darüber hinaus eine ganze Reihe von Briefen mit Fotos, auch von Schulze, gefunden. Im Zusammenhang dieser Ermittlungen wurden auch weitere Personen genannt, wie Hans Freytag und Otto Quast, die auch in anderen Verfahren eine Rolle spielten.

1949 kehrte er nach Deutschland zurück, nach Hamburg und strengte beim Wiedergutmachungsamt am Landgericht Lübeck eine Rückerstattungsklage an. Er berief sich darauf, dass er während der Haft zum Verkauf seines Besitzes genötigt worden und er quasi enteignet worden sei.

Zu diesem Zeitpunkt war Schulz völlig mittellos, seit Monaten ohne Verdienst und nach eigenen Angaben infolge seiner nie endenden Notlage psychisch sehr deprimiert: „So lebe ich seit 12 Jahren in der stillen Hoffnung, dass die Gerechtigkeit auch mir zur Teil wird und mir nach aller Not und Pein mein verlorenes Hab und Gut wiedergibt.“ Seine Rente als Kriegsversehrter des 1. Weltkrieges wurde ihm seit seiner Verurteilung im Jahre 1937 nicht mehr gezahlt. Bei der Verhandlung vor Gericht wiesen alle Profiteure und auch der vorsitzende Richter Schulz Wiedergutmachungsansprüche schroff zurück.

Otto Maas äußerte sich dahingegen: Die Verhaftung von Schulz im März 1937 hätten die strafrechtlichen Verfehlungen zugrunde gelegen, der fortwährend widernatürliche Unzucht getrieben hätte. Die Verurteilung des Antragstellers wegen Vergehens gegen §175 StGB sei rein krimineller Natur gewesen. Personen, die im 3. Reich wegen krimineller Vergehen nach § 175 StGB verhaftet, bestraft oder ins Konzentrationslager verbracht worden seien, gehörten nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis des Rückerstattungsgesetztes.

Darüber sei der Antragseller auch niemals ein Gegner der NSDAP gewesen, sondern habe zu Beginn des dritten Reiches durchaus den Eindruck erweckt, als sympathisiere er mit der nationalsozialistischen Bewegung.

Im Übrigen sei dem Antragsteller aus der Veräußerung des Wein- und Spirituosenlagers überhaupt kein Schaden entstanden. Die Waren waren zum Teil noch nicht bezahlt und hätten von Schulz ja nicht mehr veräußert werden können, insofern das die Gefahr bestand, dass die Ware gepfändet worden wäre. Da habe er mit dem Erwerb der Waren verhindert, auf Schulze sei kein Druck ausgeübt worden. Er habe sich damit einverstanden erklärt, da er erkannte, dass er die Geschäfte nicht weiterführen könne.

Auch dem neuen Pächter Voss könne Schulz dankbar sein, dass er so schnell in seinen Pachtvertrag eingesprungen sei, ohne dass ihm weiterer Schaden entstanden sei, das er ja den Betrieb nicht weiterführen konnte und die Pacht nicht zahlen.

Und die Schuld dafür trage er höchst selbst, da er sich aufgrund des Verstoßes gegen den § 175 zu Schulden kommen ließ.

Das Deutsche Reich, vertreten durch die Oberfinanzdirektion Schleswig-Holstein hielt schließlich fest, er sei weder Jude noch sei ungerechtfertigte Entziehung seines Vermögens wegen politischer Gegnerschaft erfolgt, es sei vielmehr auf die Bestrafung des Antragstellers wegen Vergehens gegen § 175 zurückzuführen. Dass er nach der Haftentlassung nicht mehr in der Lage gewesen sei, eine wirtschaftliche Lebensgrundlage zu finden.

Bei näherer Überprüfung der Gründe für diese Verhaftung anhand der Strafakten gelangte man zu der Feststellung, dass für diese Verhaftung keinerlei politischen Gründe. sondern alleine kriminelle Gründe maßgebend waren. Der Gestapo war es bekannt geworden, dass der Antragsteller sich bereits seit längerer Zeit homosexuell betätigt habe. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens wurde der Antragsteller zunächst in Schutzhaft und ca. 12 Tage, später in Untersuchungshaft genommen, weil er hinreichend verdächtig war, bereits seit längerer Zeit, und zwar zum Teil schon seit 1932 mit drei Personen fortgesetzt widernatürliche Unzucht nach § 175 StGB alter und neuer Fassung getrieben zu haben.

Die Verhaftung des Antragstellers stellt sich hiernach als eine ganz normale Maßnahme im Rahmen eines polizeilichen bzw. staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens wegen einer Straftat da, die schon von jeher und nicht erst seit Beginn der Herrschaft des Nationalsozialismus unter Strafe gestellt ist.

Irgendwelche politischen Motive haben der Verhaftung offensichtlich nicht zugrunde gelegen.

Es mag dem Antragsteller zwar zugegeben werden, dass die Verfolgung der Vergehen gegen § 175 StGB seit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus im Allgemeinen energischer gehandhabt wurde als in der Zeit vor 1933. Diese Tatsache gibt dem Antragsteller jedoch nicht das Recht, seine Verhaftung durch die Gestapo als politische Verfolgungsmaßnahme hinzustellen.

Durch den Entzug seines Erwerbseinkommens war er genötigt, alle verfügbaren Vermögenswerte zu veräußern, um seine Verpflichtungen einzulösen.

Die Vermögensbestände sind ihm nicht aufgrund seiner Rasse, seiner politischen Auffassung oder seiner politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus entzogen worden.

Die Tatsache, dass er nicht Mitglied der NSDAP gewesen und wegen Vergehens gegen den § 175 StGB bestraft worden sei, genügte nicht zur Feststellung seiner politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus. Insofern habe er vom Gesetz her auch keinen Anspruch auf Widergutmachung.

Interessant in unserem Zusammenhang ist noch die Begründung des Vorsitzenden Richters: „…das die Beantwortung der Frage, ob kriminelles Vergehen nach § 175 StGB in der fraglichen Zeit aus politischen Gründen besonders streng bestraft worden sind, wohl als unerheblich dahingestellt bleiben kann, da es nicht darauf ankommen dürfe, ob die etwaige Verfolgung aus den Gründen des Artikel 1 REG also aus Gründen der Rasse, der Religion, der politischen Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus stattfand, dafür dürfte in den in Rede stehenden Fällen wie aufgezeigt, nichts ausreichend dargetan sein.“

In einer abschließenden Stellungnahme heißt es ferner: „Ob der Antragsteller während der Haft von der Gestapo misshandelt worden ist, braucht hier nicht geprüft zu werden, denn sicher ist, dass eine derartige etwa vorliegende Misshandlung nicht die Ursache für den Vermögensverlust war. Die Ursache dafür war die Straftat und die Folgen und diese beruhen wie schon oben aufgeführt nicht auf politischen, sondern auf kriminellen Motiven.

Die Behauptung des Antragstellers, er habe sich keines Vergehens schuldig gemacht, sein Geständnis sei von der Gestapo erpresst worden, ist unglaubwürdig. Dagegen sprechen wesentliche Umstände.“

Somit endet ein unrühmliches Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit. Fritz Schulz wurde nicht für das ihm zu gefügte Unrecht entschädigt; immerhin dient der Prozess heute jedoch der Dokumentation der Rechtsbeugung deutscher Richter und macht es möglich, dass einem Opfern ein wenn auch spätes Gedenken gewidmet werden kann.

Stolpersteine für Wilhelm Heick und Fritz Schulze in der Antonistraße 2
Foto: Kevin Hackert

Wohnsitz von Wilhelm Heick und Fritz Schulze in der Antonistraße 2 vor ihrer Verhaftung am 8. März 1937
Foto: Kevin Hackert

Stolpersteine für Wilhelm Heick und Fritz Schulze während der Verlegung am 15.10.2020 in der Antonistraße 2
Foto: Kevin Hackert

Stolpersteine für Wilhelm Heick und Fritz Schulze in der Antonistraße 2
Foto: Kevin Hackert